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22.07.06
Kalte Fische im Haifischbecken
Vergesst Woodstock, vergesst Goa! Die "freie Republik" Kazantip auf der Krim will den Gedanken der gluecklichen Party-Gemeinschaft unter freiem Himmel zu neuem Leben erwecken. Eine Reisewarnung
von der Krim berichtet: Reisendereporterin
Erschienen in der taz vom 22.07.2006
Kazantip ist eine freie Republik, die jedes Jahr zwischen Mitte Juli und Mitte August an einem einsamen Strand auf der Halbinsel Krim ausgerufen wird. Hier ist alles anders, als man es bisher von Festivals und Partyinseln gewohnt ist. [] Die Besucher sind "Buerger von Kazantip" und statt Eintrittskarten gibt es "Visa". [] Das Leben in der freien Republik erinnert die alten Hasen an die Anfaenge der Partykultur auf Ibiza oder Goa zu Beginn der 70er Jahre, als Musik und Menschen im Vordergrund standen und nicht Kommerz und Umsatzziele. (www.kazantip.de).
Der Entschluss, zum Ultra-low-Budget-Abenteuertrip in die Ukraine zu fahren, war nach dem Lesen dieser Internetversprechungen schnell gefasst. In einem alten DAF-Transporter wollten wir uns zu dritt auf die Suche nach der unkommerziellen, ausgelassenen Beach Party machen, die jaehrlich "bis zu 50.000 junge, aufgeschlossene Menschen aus ganz Europa" besuchen und die so ganz anders als alles im Westen zu werden versprach.
Nach einer schnellen Fahrt durch Polen endet die EU, nicht natuerlich das geografische, wohl aber das gefuehlte Europa. Der Grenzposten zur Ukraine: ein Flashback in die Westberliner Kindheit. Am Grenzpunkt Karczowa angekommen, darf sich der Fahrende zunaechst in eine aus hunderten von Autos und Lkws bestehende Schlange auf schon recht kaputter Feldstra§e einreihen. Nach dezentem Vordraengeln wurden wir tatsaechlich herangewinkt. Wir hatten von westlichen Ukraine-Reisenden gehoert, dass man das ruhig machen soll, wenn man denn, von den uniformierten Herren nach Papieren gefragt, einen Umschlag mit fuenf Euro ueberreicht. Ansonsten, hatte es gehei§en, koenne man sich auf stunden- oder tagelanges Warten einrichten.
Doch die Polen lie§en uns ohne Bakschisch vorbei, und nachdem auch der ukrainische Grenzer unsere Paesse und "Ausweis von Auto" begutachtet hatte, begann das Abenteuer Ostblock. In Reisefuehrerdeutsch, nuechtern auf den Punkt gebracht: "Das teilweise ruecksichtslose Verkehrsverhalten ukrainischer Autofahrer fordert zu besonders umsichtigem Fahren auf. Erhoehte Geschwindigkeit, schlechte Stra§enmarkierungen und alkoholisierte Fahrzeuglenker koennen das Fahren auf ukrainischen Stra§en zum Abenteuer werden lassen. Von Nachtfahrten wird abgeraten."
Der Sonnenuntergang kuendigte sich an, als wir in dieses gro§e, fremde Land einreisten, diesen Mix aus Dritter, Zweiter und Erster Welt, und wegen der angeblich dramatischen Kriminalitaetsrate hatten wir mehr Angst, auf offener Stra§e zu parken, als nachts zu fahren. Die rumpeligen Stra§en mit ihren tiefen Schlagloechern hie§en uns aehnlich herzlich willkommen wie die grimmigen Grenzer mit den riesigen Old-School-Muetzen. Gluecklicherweise war unser Fahrer des arabischen Fahrstils maechtig, der dem ukrainischen sehr aehnelt. Weder Rechts- noch Linksueberholer, selbst wenn sie zeitgleich kamen, konnten ihn schocken. Schlagloecher umging er mit eleganten Rallyekurven, die man unserem Umzugswagen gar nicht zugetraut haette. So hielt sich unsere Panik angesichts der von den Einheimischen praktizierten Fahrtechnik, die auch schon mal zum Schlittern auf den Schotterraendern oder gar auf Feldern fuehrt, in Grenzen. Nur die unbeleuchteten Pferdekarren und Fahrraeder, die naechtens wandernden Familien und natuerlich die Ausschilderung in kyrillischer Schrift forderten besondere Aufmerksamkeit auf der unbeleuchteten Landstra§en-Autobahn.
Schlaf fanden wir im ehemals staatlichen Hotel in der ersten Stadt nach der Grenze, in L'viv (Lemberg), das ohne Dusche, ohne Fruehstueck und ohne ein Laecheln der nur Russisch sprechenden Rezeptionistin fuenf Euro pro Person kosten sollte. Das landesweite System des bewachten Parkplatzes hatte noch nicht unser Vertrauen, so schlief der vorausschauend mitgebrachte Automechaniker auf dem tatsaechlich gut bewachten Hotelparkplatz fuer einen Euro pro Nacht im kuscheligen Transporter.
Ein kurzer Spaziergang durch die duestere Stadt vermittelte einen ersten Eindruck: Trotz kalter Witterung, traditionell hohen Alkoholkonsums und schlecht gepflasterter Buergersteige schienen die Damen Micro-Pumps und Miniroecke sehr zu schaetzen, die Herren hingegen versuchten, etwaige Attraktivitaet durch Jogginghosen und schmuddeliges €u§eres zu verstecken. Obwohl - oder weil? - wir die einzigen Auslaender waren, beachtete uns niemand. Nur ein paar Kurzgeschorene begutachteten uns kritisch, spaeter erfuhren wir, dass L'viv unter jungen Leuten in Kiew als Skinhead- und Neonazistadt verrufen ist. Mit dem unguten Gefuehl, uneingeladener Gast in einem unfreundlichen Teil der Welt zu sein, starteten wir am naechsten Morgen auf einer der wenigen halbwegs akzeptablen Fernstra§en des Landes mit dem Ziel Krim.
Die Landschaft auf dem Weg dorthin ist weit, gepraegt von Weizen- und Sonnenblumenfeldern, Waldlandschaften und an der Stra§e kauernden Babuschkas, die oft nur mit einem Eimerchen Kartoffeln und einem Bund Petersilie auf die Einnahme einiger Griwna hoffen. Die schnell durchfahrenen Staedte boten alle ein aehnliches Bild: dem Verfall preisgegebene Plattenbauten, einige zerbroeselnde architektonische Prunkstuecke aus oesterreichischer und sowjetischer Zeit und modelartige Maedchen in Miniroecken. Vor uns lagen zwei Tage ruhigen Waldweg-Campens und erster Erfahrungen mit den Schwaermen aggressiver Muecken, sodass wir uns fragten, ob Tschernobyl nicht doch Auswirkungen auf Flora und Fauna des Landes hatte. Dann, endlich: die Einfahrt nach Odessa. Rei§brettentwurf aus der Zeit Katharinas der Gro§en. Die Hafenstadt, literarisch als wilde, anruechige Diva geruehmt, erbaut nach Plaenen franzoesischer und oesterreichischer Architekten auf einem Siedlungsplatz der alten Griechen. Man importierte Platanen und Akazien damals, im ausgehenden 18. Jahrhundert, als Odessa die erste europaeische Stadt des Ostens war, als Kaufleute, Mittelmeerhaendler und Seeleute hier aufgrund der von der Zarin versprochenen Verguenstigungen ihren Reichtum mehren konnten. Damals war Odessa reicher als St. Petersburg oder Moskau. Spaeter kamen franzoesische Gouverneure, italienische Boersenmakler und deutsche Fabrikanten, es entstand eine quasidemokratische Republik fernab des Zaren, eine Region, in der man auf der Stra§e rauchen und eine Nelke im Knopfloch tragen durfte, waehrend man dafuer in St. Petersburg noch Mitte des 19. Jahrhunderts ausgepeitscht wurde.
An der prunkvollen restaurierten Oper durften wir unzaehligen Hochzeitsgesellschaften beim Videodreh des schoensten Tags im Leben zuschauen. Zu solch hohen Anlaessen pflegen sich die Damen in einem Stil zurechtzumachen, der sich nur als "Working Girl, Las Vegas" beschreiben laesst. Die Frischverheirateten posieren vor dem geschlossenen, verfallenen Museum der Schwarzmeerflotte, am geleasten pink Cadillac oder auf der beruehmten Treppe aus "Panzerkreuzer Potemkin". Es gilt als schick, sich als Braut fuer etwa 1,20 Euro mit €ffchen und Albinokarnickeln und als Herr mit kleinen Krokodilen und Chamaeleons auf dem Arm ablichten zu lassen.
In Odessa scheint auch heute noch viel mehr Geld im Umlauf zu sein als im Rest des Landes: Mango und Benetton haben hier ebenso wie McDonald's Filialen mit westeuropaeischen Preisen, und die Maedchen tragen neben Minirock und High Heels gro§e, dunkle Sonnenbrillen mit gefaelschtem Designerlabel. Selbst die Pionier-Girls, die am Obelisken zur Erinnerung an die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soehne der Stadt Wache schieben und salutieren, halten sich an dieses Stylingdiktat. Befremdlich, vor allem wegen der Holz-Kalaschnikows, die sie auf ihren hohen Absaetzen vor sich herbalancieren.
Der riesige Schwarzmeerhafen setzt der nicht allzu verfallenen Innenstadt mit dem angestaubten europaeischen Flair ein haessliches Panorama entgegen, die innerstaedtischen Stra§en sind noch rumpeliger als die Fernstra§en. Der Stadtstrand ist schmutzig, die Bucht voller Quallen, allein die Anfahrt durch die von hohen Platanen gesaeumten Alleen, an denen sich die ehemaligen Sanatorien - herrschaftliche Villen in schoenen Parks - verstecken, erweckt historische Fantasien.
Unser arabische Fahrer fand ueber einen Schawarmaverkaeufer Anschluss an die islamische Gemeinde und erfuhr von vier lokalen Moscheen. Dort erklaerten ihm seine Glaubensbrueder, von denen es 25.000 in Odessa geben soll, dass die Mafia selbst mit den von palaestinensischen Fluechtlingen muehsam aufgebauten Imbissbuden keine Gnade kennt. Gut laufende Staende werden erst mit Schutzgeld belegt, dann auch mit Waffengewalt ganz uebernommen.
Abends stand der Besuch in Arkadia an, dem Partyareal Odessas. Neue Hoffnung. Bestimmt wuerden uns die Menschen aus der international gepraegten Hafenstadt neugierig empfangen - wir waren doch Exoten, immerhin hatten wir auf den letzten tausend Kilometern keine anderen westlichen Reisenden gesichtet! Doch als wir auf Arkadias bewachtem Parkplatz Spaghetti kochten, waren wir den Besuchern, die hysterisch ueberstylt in westlichen Angeberautos einrauschten, weder ein muedes Laecheln noch eine beilaeufige Frage wert. Wir wurden einfach von allen, die keinen Grund hatten, Geld von uns zu verlangen, ignoriert. Bei all den Luxuskarossen hatten wir mittlerweile auch keine Angst mehr um unseren dreizehn Jahre alten Transporter. Trotzdem gab es unserem Selbstwertgefuehl einen Stich, konsequent ignoriert zu werden.
Arkadia ist ein Chamaeleon: tagsueber Strand mit Rummelplatz, nachts Ibiza-artiges Open-Air-Discoareal mit landestypischen, dem Wodka geschuldeten Entgleisungen, blutigen Schlaegereien und billigem Disco-Techno. "Ibiza" hei§t ganz passend die teuerste Disco, 40 Griwna, rund 6,50 Euro, kostet der Eintritt zu etwas, was in Deutschland "Michael-Ammer-Party" hei§en wuerde. Viele junge Maedchen sa§en bei wenigen aelteren Herren, juengere Herren liefen in geschmacklos zusammengewuerfelter Designerkleidung mit Mode-Irokesenfrisur durch die im spanischen Inselstil designte und wummernde Disco. Wenn Damen zu viel fuer ihr Schuhwerk getrunken hatten, wurden sie von irgendwelchen Herren herumgezerrt oder flogen von allein hin.
Davon, dass laut Unicef rund 80.000 der eine Million Einwohner Odessas -meist aufgrund von gemeinsam benutztem Spritzbesteck - HIV-positiv sein sollen, sah man hier nichts. Reich oder schoen wirkten alle. Nur in der Innenstadt lungerten einige ungesund aussehende Juenglinge und verschorfte Stra§enkinder herum, von denen es in diesem Land 300.000 geben soll. Nach zwei Jahren auf der Stra§e sind laut Unicef zwei von drei Jugendlichen HIV-positiv, da sie sich billiges Opiumgemisch oder einen Sud aus giftigen Pilzen, Schlaftabletten oder Mohnsamen gemeinsam spritzen. In der "freien Republik" Kanzantip, so hofften wir nun, wuerde alles anders sein: Alle offenen jungen Leute der Ukraine wuerden sich dort treffen, irgendjemand wuerde Englisch sprechen, neue Freunde wuerden uns freundlich begrue§en - ein Festival wie die, von denen unsere Eltern noch heute schwaermen
Nach wildem Campen mit Blick aufs Schwarze Meer verlie§en wir Odessa, ueberquerten den Dnjepr, an dem zahlreiche Fischer ("Photo? Five Dollar!") sehr komisch schmeckenden, im Innern matschigen Trockenfisch zu verkaufen suchten. Nachts, endlich, kamen wir auf die Krim, an deren nordwestlicher Kueste, beim Staedtchen Evpatoria, das Kazantip schon eine Woche zuvor begonnen hatte. Jegliches Verlassen des Autos wurde auf diesem letzten Teil der Strecke mit der sofortigen Durchloecherung der Haut durch Mueckenschwaerme bestraft, selbst durch T-Shirts hindurch.
Statt der erhofften bunten Wegweiser begegneten wir nur einem einsamen, betrunkenen Wodkahaendler, der sein Geschaeft von der Motorhaube seines alten Ladas aus betrieb. "Kazantip? - Ahahaha." Vage deutete er geradeaus. Nach halbstuendiger Fahrt durch absolute Dunkelheit ploetzlich: nein, kein liebevoll gemaltes Hinweisschild, wie es bei westeuropaeischen Open-Airs der Fall waere, sondern ein vom Zigarettenriesen Philip Morris hingestelltes Zigarettenwerbeplakat. "Kazantip raucht L&M." Vor dem Eingang standen weitere Alkoholhaendler: Aus Plastikkanistern wurde Selbstgebrautes angeboten, in kleinen alten Buedchen gab es Wasser, Wodka und Bier, an Staenden wurde Reis mit Fleisch verkauft, der kleine Teller verhaeltnismae§ig ueberteuert.
Beim Check-in wurde jeder Besucher digital fotografiert, das Foto per Barcode auf seinem "Visum", einem Plastikausweis, gespeichert. Das Foto erschien nun bei jedem Betreten des Gelaendes auf den Monitoren der Securities, die allesamt in alten James-Bond-Filmen als die boesen Russen durchgegangen waeren. Fuer 60 Euro, mehr als einen halben lokalen Monatsverdienst: Eintritt in das hermetisch abgeriegelte Kazantip-Areal, gro§ wie elf Fu§ballfelder, mit acht ueber Wege und Sand verbundenen Dancefloors, alle mit viel zu lauten Boxen und 80er-Jahre-Lichtshow. Die Frauen mit den gro§en Buchstaben auf ihren dunklen Brillen setzten den elektronischen Rhythmus wie gelangweilte Thai-Bar-Girls in Bewegung um. Dazu trugen sie den typischen "Ich bin ein toter Fisch und taue erst ab 250 Dollar auf"-Gesichtsausdruck zur Schau und waren keine angenehmen Zeitgenossinnen, vor allem weil sie einfache Kommunikationsversuche (die wir in sieben Sprachen anstellten) nur mit "Njet. Russki." und einem hoehnischen Lachen ob unserer fehlenden Russischkenntnisse beantworteten. Ein russischer Bekannter in Berlin erklaerte mir, die intensive Ignoranz oder auch gefuehlte Fremdenfeindlichkeit der jungen Generation sei historisch begruendet, eine Folge des Zweiten Weltkriegs.
Die spektakulaerste Buehne, von Wasser umspuelt und nur per Steg zu erreichen, war eine aus Geruestbaustangen und Holzplanken zusammengeschraubte Disco, an deren Seite extrem werbewirksam Riesenplakate des neuen Energy-Drinks aus der Coca-Cola Factory hingen. Es war unmoeglich, ein Foto vom Strand zu machen, ohne die Werbung mit abzulichten. Coca-Cola laesst grue§en: Alle Staende und Bars duerfen nur Bonaqua verkaufen, fuer 10 Griwna (gut 1,60 Euro) die 0,3-Liter Flasche - und das in einem Land, in dem 600 Griwna Monatsdurchschnittslohn sind und wo man im Supermarkt 5 Liter fuer 4 Griwna bekommt. Wir erfuhren auch, dass man als Normalsterblicher bis zu 5.000 Dollar fuer die Miete eines Standes auf dem Festival zahlen muss, waehrend die besten Bars und Restaurants vom Veranstalter direkt an die Familien der lokalen politischen Elite gehen, natuerlich mietfrei. Was stand doch im Internet? "Die Republik Kazantip ist ein Staat, in dem nur einige Leute arbeiten: der Praezident und die Regierungsmitglieder. Wie es den Staatsdienern gebuehrt, denken sie viel nach, machen die Wangen dick, treffen Entscheidungen, teilen eigene Portefeuilles und das Volkseigentum unter sich auf. Sie benutzen teure Autos und leben im wei§en Haus." Wie toericht westlich von uns, diese Wort fuer verspielte Ironie zu halten. Kazantip, ein Haifischbecken.
†berall trifft man auf Miliz in Uniform und Zivil, Letztere meist in Beige und Hellblau. Nach dem ersten Schock ueber die kommerzielle Ausrichtung und den Moskauer Beach-Schick, der hier zur Schau getragen wird (Miniroecke und Hotpants mit Bikinioberteilen und sehr viel Schminke), beschlossen wir, die 10 Dollar fuer den bewachten Parkplatz zu sparen und auf einer Wiese direkt vor dem Gelaende zu campen. Es sollte vier Tage dauern, bis die Miliz uns dreimal an einem Tag kontrollierte und aggressiv verwarnte. Am naechsten Morgen wurden wir von froehlich plappernden Ziegenhirten im Rentenalter geweckt, auf deren Muellplatzweide wir unwissentlich unser Lager aufgeschlagen hatten. Keine Verwunderung, keine Fragen; in den mehr als zehn Jahren, die das Festival laeuft, scheinen sich die Einheimischen an alles gewoehnt zu haben. Ein Datschenbesitzer lie§ uns in seiner Laube duschen. Wir gaben ihm ungefragt jeder 10 Griwna. Ein erstes ukrainisches Laecheln.
Bei Sonnenschein wirkte das Festivalgelaende sehr viel trister als bei Nacht: Der riesige Triumphbogen, das Eingangstor mit Videoueberwachung, sah aus wie ein schlechter Disneyland-Entwurf. Es gab drei Duschen und neun Toiletten der alten franzoesischen Art, vor denen die Schlangen immer deutlich laenger waren als vor den Bars. Kein Wunder: Wer beim Pinkeln aufs Gelaende erwischt wird - und das ist wegen der vielen Milizen ziemlich wahrscheinlich -, zahlt 50 bis 100 Griwna. Das zumindest erzaehlt uns Uli, 31, den wir am Strand treffen, ein wohnungsloser ehemaliger Lkw-Fahrer aus Deutschland und Traveller aus †berzeugung. "Ich hab mein Hartz-IV-Geld genommen, bin mit dem Bus fuer 92 Euro nach Kiew gefahren und dann fuer 30 Griwna mit dem Zug nach Kazantip." Uli hat hier unter T†V-unmoeglichen Bedingungen beim Aufbau der 11 Meter hohen Dancefloor-Kuppel aus undekorierten Gerueststangen gearbeitet, fuer 8 Euro und zwei Mahlzeiten pro Tag. Die 60 Euro Eintritt zog man ihm, der nach Partybeginn noch eine Woche neben dem DJ-Pult unter der von ihm gebauten Kuppel schlafen durfte, vom Lohn ab.
Haette er doch blo§ an den gelben Koffer gedacht! Wer sich naemlich bis zum 16. Juli online registrieren laesst und mit einem gelben Koffer anreist, darf traditionell umsonst auf die Party. Dafuer muss man allerdings immer den Koffer dabeihaben und vorzeigen, denn ein "Visum" erhalten diese Gaeste nicht. Theoretisch ist das eine schoene Idee, um auch aermere Kids teilnehmen zu lassen, in der Praxis ist es vor allem ein cleverer Marketingtrick von "Praezident" Nikita, denn die Kids sind oft tagelang unterwegs und laufen so schoen Werbung fuer das Festival. Anders die reichen Moskowiter und Petersburger, die hier naechteweise einfliegen: Fuer haessliche aeltere Maenner in Begleitung schoener, auf "Ich bin zu kaufen" gestylter Frauen ist die Reise zum Kazantip ein beliebter Wochenendspa§.
An Kontaktaufnahme mit uns Westlern war immer noch niemand interessiert - nur die anderen Westler, die mit Kazantips in Hamburg lebendem "Au§enminister" Sergej pauschal hier angereist waren. 500 Euro kosten "Visum" und Unterkunft mit kalter Dusche fuer Deutsche und …sterreicher, nicht eingerechnet der Flug fuer 365 Euro. Vor den Toren gab es gleichwertige Datschen und Haeuser schon fuer 10 Griwna, aber auch Zelte auf Innenhoefen fuer 20 Dollar, wie mir ein aelterer amerikanischer Computerspezialist erzaehlte. Er sei wegen der Schoenheit der Maedchen hier, sagte er. Dass die Maedchen nur auf sein Geld beziehungsweise einen kostenlosen Rausch aus sind, schien ihn nicht zu stoeren. Frank, 24, VWL-Student, ganz gut anzuschauen und Mitglied in einer schlagenden Verbindung, war da schon kritischer. Er hatte ein Maedchen fast im Bett, als sie ihm unbedingt eine Ecstasy-Pille fuer 25 Dollar verkaufen wollte. Als er wiederholt ablehnte, lief sie weg. In der naechsten Nacht lie§ er sich von einer zuckersue§en 17-Jaehrigen ueberreden, zwei kleine Becher Alkoholgemisch - angeblich Absinth mit einem Tropfen Benzin - fuer 100 Griwna zu kaufen, das sie beide tranken. Er, gestandener Raver und in allen synthetischen Drogen erfahren, war nach diesen 2 cl nicht mehr in der Lage, geradeaus zu laufen oder verstaendlich zu sprechen. Stundenlang schrie und lachte er hysterisch. Aus Verzweiflung, weil die Kleine sofort nach Genuss verschwand? Auch am naechsten Tag bezahlte er einer Minderjaehrigen ihren Vollrausch, sie wollte dann auch mit ihm schlafen, doch dass sie weder kuessen noch ein Kondom benutzen wollte, lie§ nun ihn weglaufen.
Laut dem deutschen Aktionsbuendnis gegen Aids wei§ nur eines von zehn ukrainischen Maedchen, wie man sich vor HIV schuetzt. Und nur drei§ig Prozent bestehen beim Sex auf Kondom. Nach allem, was man auf dieser Party hoerte, schien sich aber niemand aus dieser safen 30-Prozent-Gruppe nach Kazantip verirrt zu haben. Eine 20-jaehrige Studentin aus der einzigen oeffentlich am Strand kiffenden Clique, die sich bestens mit allen im Umlauf befindlichen Drogen und ihren Preisen auskannte, erklaerte uns auch, wieso: Aids haben doch nur die Junkies!
"Spritze" hei§t hier "Spritz". Und auch die gab es auf Kazantip zuhauf: Direkt an der Haupttanzflaeche und an der Gokartbahn (zehn Minuten fuer 5 Euro) fanden wir sie im Sand. Ein Schuss Heroin mit irgendwas sollte nur 3 Dollar kosten, waehrend Amphetamine, Pillen und Gras zu 20 bis 25 Dollar pro Gebrauchseinheit verkauft wurden. Wer beim Konsum oder Besitz erwischt wird, erzaehlte uns das Maedchen, koenne mit Pruegelstrafe, der Abnahme seines gesamten Bargeldes und des Mobiltelefons sowie einem gruseligen Verhoer rechnen. Da schon kleine Drogenvergehen mit drei bis fuenf Jahren Gefaengnis geahndet werden, zahlt jeder Erwischte die 200 Dollar Schmiergeld fuer das Ticket in die Freiheit gerne. Ab sofort hatten wir Angst vor dem Strand und seinen im Sand verborgenen Nadeln. Das ueberwiegende Technogewummer der - uebrigens unbezahlten! - DJs wurde zu eintoenig. Und ueberhaupt: Quallen, Muecken, Fliegen und schwarze Kaefer im Sand sind fast so unsympathisch wie Abzock-Partymacher (Nikita macht an die sechs Millionen Dollar pro Festival und verbringt die Winter auf Goa). Nach vier Tagen in der "freien Republik" Kazantip reisten wir mit Erleichterung im Herzen wieder ab.
Auf dem Rueckweg war das Kleinstadthotel, in dem wir uebernachten wollten, ueberfuellt. Wir parkten davor und gingen mit einer Babuschka, die uns Quartier fuer 10 Griwna pro Person anbot. Wir trauten uns, auf dem ersten unbewachten Platz zu parken, in der friedlich wirkenden Kleinstadt, direkt vor dem gro§en Lenin-Denkmal und dem Hotel. Morgens um halb sieben weckte uns die Babuschka aus dem Schlaf: Auto geknackt! Die Kuehlschrank-Herd-Sonderanfertigung, die Gasflasche, alle Kochtoepfe und Pfannen und zwei Radios waren weg. Unser nagelneues Hackebeil, ein gro§er Wert in diesem Land des Eisenmangels, steckte in Omachens verstecktem Vorgarten, direkt vor unserem Gaestezimmer.
Die Polizei war zuvorkommend und engagiert, sie rueckte fruehmorgens mit sechs fotografierenden und Fingerabdruecke sammelnden "Ekspert" an und nahm uns sehr ernst. Das Spurensicherungslabor, das wir besichtigen durften, war ein verstaubtes Buero, in dem allerlei Beweisstuecke mit Klammern an Waescheleinen baumelten.
Die wunderschoene Landschaft der Transkarpaten in der Nordwestukraine, das Bad in Gebirgsbaechen und die schoenen, aermlichen Bauernmaerkte mit endlich laechelnden Menschen auf der Rueckreise ueber die Slowakei und Tschechien entschaedigten ein wenig fuer alles, was wir in diesem armen Land im Umbruch auf die falsche Seite sehen und erleben durften.
Posted by jaz at 22.07.06 14:02