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27.05.06
Damaszener Szenen
Zwischen realitaetsresistenter Propaganda, der gelebten Tradition aus Tausendundeinernacht und heimlichem Nightlife: Wie lebt es sich in Syriens arabischem Sozialismus?
taz Magazin vom 27.5.2006, S. I-III, 712 Z.
Morgens um acht wurde ich vom Mitarbeiter eines syrischen Fernsehproduzenten abgeholt und zur Universitaet Damaskus gekarrt, wo ich einen Sitzplatz in einem nahezu schrottreifen Bus zugeteilt bekam - inmitten von propagandistisch aufgekratzten StudentInnen, die alle vom Golan stammten. Es war "syrischer Muttertag", der auf den von Israel seit 1967 besetzten Golanhoehen traditionell pressewirksam begangen wird. Programm des Tages war, mit der versammelten arabischen Presse Richtung Heimat der StudentInnen zu fahren, rund zwei Stunden entfernt, um dort das "Tal der Stimmen" propagandistisch aufzubereiten. Vier Reisebusse voller Arbeiterkampflieder singender Studenten, ein paar Kleinbusse voller Journalisten und einer mit technischem Equipment fuhren also im Konvoi Richtung Feindesland. Syrien im Fruehling ist wunderschoen: Die huegelige Landschaft gruent und ist voller bluehender Blumenwiesen, das Panorama des Antilibanon-Gebirges bezaubert durch schneebedeckte Gipfel.
Kaum am windigen Golan angekommen, installierten Aktivisten gro§e Lautsprecher, es wurden Landesflaggen, wei§e und rote Nelken verteilt und der sozialistische Muttertag begangen. Stimmung wie auf einem Open-Air-Parteitag, ueber Vogelgezwitscher schepperte es aus den Lautsprechern: die syrische Hymne und arabische Arbeiterkampflieder zur Einstimmung. Nach dieser einstuendigen Ouvertuere schmetterten ausgewaehlte StudentInnen weitere drei Stunden lang dramatisch in der Landschaft nachhallende Liebesgrue§e an ihre Muetter, die hinter dem rund 500 Meter breiten, verminten Todesstreifen, der die UN-bewachte Grenze zwischen Syrien und Israel bildet, auf ihren Einsatz warteten. Dann schmetterten die Muetter hinter dem Todesstreifen die syrische Hymne zurueck, verbunden mit propagandistischen Grue§en. Einige Maedchen (alle ohne Kopftuch) weinten, waehrend sie aus kajalumrandeten Augen angestrengt mindestens so betroffen und sexy wie Angelina Jolie beim Kinderadoptieren in Kambodscha in die zahlreichen Profikameras aus dem gesamten arabischen Raum guckten.
Die internationale Presse, bestehend aus mir und einem franzoesischen Arabisch-Studenten, der fuer ein Pariser Pilgermagazin schreibt, filmte die Bilder, die die Welt noch nicht gesehen hat, unprofessionell mit dem von zu Hause mitgebrachten Camcorder, gekauft bei Aldi: Wir waren die ersten internationalen Berichterstatter, die zu diesem Event geladen wurden.
Wer ueber ein Land wie Syrien berichten moechte, sollte bei der Beantragung des Einreisevisums als Beruf "Journalist" angeben. Mit diesem Visum darf man einen Monat lang in Syrien arbeiten, aber nicht aus- und wieder einreisen, denn dann bestuende die Gefahr, dass man brisantes Material ueber den freien Libanon ganz einfach durch internationale Paketdienste au§er Landes schafft. Deshalb spricht einiges gegen eine offizielle Akkreditierung, man wei§ ja vor Reiseantritt nie ganz genau, welche Geschichten sich auftun. Aus Gruenden der persoenlichen Freiheit und Sicherheit war es mir lieber, als "Studentin" nach Syrien einzureisen. Der mitreisende Kollege, als Freelancer im Auftrag einer deutschen Sendeanstalt unterwegs, war offiziell gemeldet - was fuer die Durchfuehrung von Dreharbeiten auch notwendig zu sein schien. Selbst "Reporter ohne Grenzen" haben keine aktuellen Informationen ueber die journalistischen Arbeitsbedingungen; es gibt nur eine dauerhaft hier lebende auslaendische Hoerfunkjournalistin, eine junge Deutsche. Auf dem Pressefreiheitsindex belegt Syrien den 145. Platz. Und steht auf der Liste der 37 groe§ten Feinde der Pressefreiheit.
Immerhin soviel war im Vorfeld herauszubekommen: Wer filmen moechte - was auch immer -, muss den syrischen Informationsminister darueber in Kenntnis setzen. Und natuerlich auch die zustaendige Stelle, die schikanoes weit au§erhalb Damaskus gelegene Behoerde fuer Internationale Presse, Abteilung Radio und Fernsehen. Haette ich es korrekt machen wollen, haette ich mich bei dieser und bei der Behoerde fuer Auslaendische Printerzeugnisse melden muessen. Und dann natuerlich noch mal beim Infominister vorsprechen, um Story-Ideen anzumelden. Beim Vorlegen der Rechercheidee "russische Prostituierte in Syrien" waere ich sicher gleich ausgewiesen worden. Und haette auch nichts ueber die iranischen Drogendealer, Heroin- und Opium-Junkies und den fantastischen blonden Libanesen erfahren. Auch die Cousine vom Hizbollah-Fuehrer Nazrallah waere nie meine Freundin geworden. Aber dazu spaeter mehr.
Die Kamera sollte in Damaskus auf uns warten, von der syrischen Journalistenunion werde sie gestellt, hie§ es in Deutschland. Per Fax und Telefon seien die Kollegen informiert und wuessten ueber uns - oder zumindest den offiziell angemeldeten Kollegen - Bescheid. Nach zwei Besuchen in der ollen, kaputten, internetfreien syrischen Journalistenunion war allerdings klar: Hier gibt es keine Kamera, nur Verstaendigungsschwierigkeiten, trotz der hinter mir liegenden drei Semester Arabisch wollte man uns dort nach mehrfachen Gespraechen fuer 101 Dollar - ein doppeltes Durchschnitts-Monatsgehalt - nur einen Brief geben, mit dem wir uns beim Info-Minister als Journalisten haetten melden sollen. Beim dritten Besuch verstanden die wie geschlagene Hunde wirkenden lokalen Kollegen mich endlich: Eine Kamera! Die sei fuer 800 Dollar pro Tag zu mieten, bei einem Produzenten, der in Damaskus fuer Al-Arabija und andere panarabische Sender die Stellung haelt, natuerlich mit einem regimetreuen Kameramann, den wir immer mitmieten muessten.
So kann man nicht arbeiten. Immerhin lud mich der Produzent mit den riesigen Satellitenschuesseln im Vorgarten seines Bueros im edlen Regierungsviertel, wo moderne Syrer im ersten und einzigen "Kentucky Fried Chicken" des Landes lunchen, herzlich zu meinem ersten offiziellen Pressetermin ein. Und so war ich zumindest auf den Golan gekommen, umringt von aufgewuehlten StudentInnen am syrischen Muttertag.
Traurig die Situation, irgendwie ergreifend, aber auch total bekloppt das Ganze: Dass viele der Demonstranten mit ihren Muettern taeglich per Funktelefon sprechen, dass in allen syrischen wie israelischen InternetcafŽs mittlerweile Webcams stehen und dass die Studenten nicht fuer immer, sondern nur fuer die Zeit des Studiums von ihren Eltern getrennt sind, wurde nicht offiziell kommuniziert. Auch nicht, dass die meisten einen Monat pro Jahr im reichen Israel arbeiten und nach dem Studium zum Staatsfeind Nr. 1 ueberwechseln wollen, weil das Geld und die Meinungsfreiheit und ganz vieles mehr in Israel besser zu sein scheint als in Syrien. All dies erfahre ich erst nach ein paar Stunden einfuehlsamen Nachfragens.
Trotzdem toll, dass ich hier dabei sein darf, denn ich lerne Manal kennen. Die syrische Korrespondentin des aegyptischen Senders Al-Misria kommt auf mich zu und fragt mich, ob ich ihre Freundin werden will und warum ich nur so eine kleine Kamera haette ("German Hightech?"), dann reden wir ganz viel ueber den Zustand ihrer Frisur im Wind, das scheint sie zu bewegen, wenigstens klappt das schon auf Arabisch. Die Busse laden uns wieder ein. Wir rumpeln zurueck nach Damaskus, vorbei an Quneitra, der von den Israelis 1967 eroberten und 1974 vermint und total zerstoert hinterlassenen ehemaligen 30.000-Einwohner-Stadt. Zu Propagandazwecken wurde Quneitra von den Syrern nicht wieder aufgebaut. Statt dessen waechst die Hauptstadt weiter.
Das neue Damaskus wirkt wie eine unfertige Plattenbau-Gro§baustelle, die im Verkehr zu ersticken droht, weshalb Fu§gaenger die meisten Hauptstra§en auf †berfuehrungsbruecken mit viel zu schmalen Treppen ueberqueren muessen. Diese Bruecken, auf denen oftmals Menschenstau herrscht, dienen haeufig Kindern als Arbeitsplatz. Mit alten Waagen hocken die schmutzig-verrotzten, sozialistisch-schulpflichtigen Kleinen dort hoch ueber der nicht-katalysierten Blechkarawane und bieten die Messung des Koerpergewichts oder einzelne Zigaretten gegen Cent-Bruchteile an. Unten, entlang den ueberlasteten Stra§en, draengeln sich Handy-Geschaefte, Kopftuchlaeden, InternetcafŽs, Saftbars, Schneider, Schmiede und Baecker, aber keine Supermaerkte, nur schnuckelige inhabergefuehrte Gemischtwarenlaedchen. Und ueberall - an allen offiziellen Gebaeuden, an Fu§gaengerbruecken, in vielen Geschaeften - haengen Poster, Plakate oder Gemaelde des Staatsfuehrers Baschar al-Assad oder seines Vaters, Hafez. Auch auf Fensterscheiben, an Bussen und Autos kleben ihre schemenhaften Portraets. Das bei jungen Maennern beliebteste gibt es in Schwarz oder Gold, Baschar traegt darauf eine verspiegelte Sonnenbrille, und wer ihn ganz besonders eifrig liebt, haengt sich die Heckscheibe seines Autos gleich mit einer Baschar-mit-zwei-Adlern-Flagge zu. Besonders bemerkenswert sind neben den ganzen Baschars die vielen Boutiquen, in denen sexy Dessous, ueberknielange Damenstiefel mit High Heels und verwunderlich viele Minikleider feilgeboten werden.
Laut ist es auf den Maerkten rund um die Altstadt. Hier wird, wie auch sonst in der arabischen Welt, nicht geblinkt, hier sprechen die Autos miteinander. Fuenfmal am Tag mischen sich die teilweise kakophonischen Gebetsrufe in die nur freitagvormittags versiegenden Hupkonzerte, und zwischendurch haben laute Maenner auf den Stra§en allerlei miteinander zu beschreien, und sei es nur der Preis fuer die hierzulande unverstaendlicherweise gerne mit Schale gegessenen unreif-bitteren Mandeln. Neben raubkopierten aktuellen US-Filmen und CDs kann man allerlei Befremdliches auf den Souks, den alten Maerkten, erwerben: lebende Schlangen, Schafs- und Kalbshirne und -hoden im Stueck, essbare Froesche, Huehner und Singvoegel. Natuerlich auch unendlich viele duftende Gewuerze, getrocknete Blumen, Nuesse und geroestete Kerne. Ein gro§es Geschaeft sind auch gefaelschte Markenprodukte. Manchmal koennen sich die Markenpiraten nicht entscheiden, welches Label sie denn nun imitieren wollen, und so gibt es fuer ein paar Euro Jeans, Schuhe und Tennissocken minderer Qualitaet, auf die "Puma Armani Reebok" gleichzeitig gedruckt ist. Und wenn sich die Sonne senkt, erwacht hier der internationale Markt fuer Sex.
Das alte Damaskus hingegen scheint in ewig waehrendem Dornroeschenschlaf durch die Jahrhunderte zu daemmern. Die schmalen Strae§chen Bab Toumas, dem Teil der Altstadt, in dem seit Jahrhunderten Christen bis zum heutigen Tag teilweise ohne flie§endes Wasser leben, sind bevoelkert von europaeischen Kulturtouristen in Jack-Wolfskin-Wuestenmontur und deutschen Sprachstudentinnen, die einen arabischen Freund zu Hause haben. Geht man in einen beliebigen Hauseingang, eroeffnen sich staendig neue Gassen, in denen vom Einsturz bedrohte Haeuser lebensunwerten Lebensraum fuer vom Staat vernachlaessigte Buerger bieten. Hier draengt sich verfallendes Weltkulturerbe dicht an dicht, und vor einigen Jahrzehnten, bevor die Luftverschmutzung in Damaskus die schlimmste im oestlichen Mittelmeerraum wurde, muss es auch pittoresk gewesen sein. Nun ist es nur noch traurig. Nicht selten verbergen sich hinter den Tueren der grauen, verfallenen Fassaden wunderschoene Kirchen und Kloester aller christlicher Glaubensrichtungen: Syrisch- und Griechisch-Orthodox, Armenisch, Griechisch-Katholisch, Syrisch-Katholisch, Maronitisch, diverse protestantische Kirchen und natuerlich alle nur denkbaren Orden. Auch hier muessen Praesidentenbilder haengen, aber die Franziskaner etwa haben ihres, zugunsten zweier gro§er Papstbilder, einfach in die Ecke gehaengt.
Schon steht das naechste gro§e Presse-Event des Landes unter bombastischen Sicherheitsvorkehrungen an: Die Eroeffnung des ersten internationalen Fuenf-Sterne-Hotels des Landes. Die Akkreditierung erfolgte bereits, an den syrischen Aufsichtsbehoerden vorbei, fuer die ich ja keine Journalistin bin, per deutsches Internet. Das syrische Internet taugt fuer die Recherche nicht viel, da die meisten interessanten und alle regimekritischen Seiten in Syrien gesperrt sind.
Der Hauptinvestor des 100 Millionen Dollar teuren Hotels, Seine Koenigliche Hoheit Prinz al-Waleed Bin Talal aus Saudi-Arabien und der Praesident von Syrien, Dr. Baschar al-Assad, luden von 12.00 bis 16.45 Uhr zu einer Veranstaltung ein, die sich fuer die Presse als "Warten in einem fensterlosen Raum" herausstellte. Es gab Sandwiches, die keiner Sterne verdaechtig waren, und einen Einblick in die seltsame lokale Journalistenszene, die es schafft, nicht-kritisch zu berichten. Unaufgeregt warteten die Damen und Herren Kollegen einfach, bis der Tag programmgemae§ vorbeiging, der Praesident musste beim Durchschneiden eines roten Bandes gefilmt werden, dann musste stundenlang im Raum gewartet werden, waehrend die geladenen Ehrengaeste mit dem Praesidenten beim Lunch sa§en. Dank der huebschen Manal, die auf meinem "German Hightech"-Minimonitor immer wieder ihre Frisur ueberpruefen musste, hatten der Kollege und ich wenigstens ein wenig Unterhaltung.
Nach Stunden kam Seine Koenigliche Hoheit Prinz al-Waleed Bin Talal in unseren Raum, um eine Pressekonferenz abzuhalten. Er hoffe auf die weitere …ffnung Syriens dem internationalen Tourismus gegenueber, auch Nordamerikaner kaemen, die Eroeffnung setze einen Meilenstein. Dann mussten wir im Raum wieder warten, bis alle Honoratioren das Hotel verlassen hatten. Besonders bemerkenswert hierbei war die Entourage des Prinzen, die waehrend der Konferenz in der ersten Reihe sa§: drei aufwaendig zurechtgemachte Damen in Chanel-Minikostuemen. Zu den Begleiterinnen mit falschen Wimpern und Haarteilen, irre hohen roten Lackschuhen, ganz langen roten Naegeln und sehr klein operierten Naeschen, dafuer aber wieder sehr gro§en Bruesten wurde nichts gesagt. Es wird sich wohl um "Assistentinnen" gehandelt haben. Haette der charmante Schweizer Generaldirektor des Hotels sich nicht sofort nach Ende der Konferenz bei uns fuer die Bedingungen entschuldigt, unter denen wir berichten sollten, haette ich das zugegebenerma§en wunderschoene Hotel nie wieder betreten wollen.
Interessante Themen verstecken sich in Damaskus an jeder Ecke, man muss sie nur vom romantischen Staub befreien, der sich ueber die "aelteste dauerhaft bewohnte Stadt der Welt" gelegt hat. Zwei deutsche Freunde etwa, Sprachstudenten, lebten ihren einmonatigen Sprachkurs ueber hier in christlichen, traditionell arabisch gepraegten Familien. Der eine berichtete leicht verstoert von den Lebensumstaenden seiner Gastfamilientochter - sie unterscheiden sich nicht von den als typisch muslimisch konnotierten Schicksalen: Falls die arabische Christin, um die zwanzig, das Haus verlassen will, bekommt sie einen zurechtweisenden Schlag vom Bruder, selbst vor Gaesten. Vom selben Bruder uebrigens, der seinerseits stolz mit angeblich selbst gemachten Handyfotos von nackten nordafrikanischen oder palaestinensischen Prostituierten anzugeben pflegte. Die Toechter muessen schnell verheiratet werden, waehrend die jungen Maenner im Hotel Mama ausharren duerfen, solange es ihnen gefaellt. Die Aufopferungsbereitschaft ihrer Muetter, Satellitenfernsehen und die staendige †bertragung der deutschen Bundesligaspiele auf Dubai-TV machen den Jungs das langweilige und perspektivlose Leben ertraeglich. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei sieben, inoffiziellen Schaetzungen zufolge jedoch weit ueber zwanzig Prozent.
Um eine Kamera zu einem vertretbaren Preis zu organisieren, fuhr ich mit einem Taxi fuer zehn Dollar die drei Stunden nach Beirut, das man trotz der Kriegsruinen und der ganzen Baukraene - dem offen zur Schau getragenen Stil der Einwohner geschuldet - schon getrost wieder das "Paris des Orients" nennen kann. Zerloecherte Kriegsruinen wackeln neben stolzen Baukraenen, immer abwechselnd, die ganze Stadt hindurch, selbst an der Strandpromenade ist alles entweder noch zerstoert oder schon neu oder noch im Bau. Die ehemalige Gruene Linie, die die christliche und die muslimische Kriegspartei voneinander trennte, ist keine Gedenkstaette, sie ist eine weitere Ruine-neben-Neubau-Zone wie die gesamte Stadt, wie das ganze Land, obwohl die Berge rings um Beirut gut und kostspielig besiedelt scheinen. Libanesen lieben irre gro§e neue Ami-Schlitten, Mobiltelefone und Schoenheits-OPs als Statussymbole. Atemlos wirkt diese Stadt, die gro§e Zelt-Gedenkstaette fuer den ermordeten ehemaligen Ministerpraesidenten des Libanon, Rafik al-Hariri, ist ein Ruhepol im Zentrum, eine Pilgerstaette, das geografische Symbol der Zedernrevolution, die die syrische Besatzungsmacht vor etwas mehr als einem Jahr zum Abzug zwang.
Die Beiruter Ladys sind elegant und todschick, stolzieren mit gefoehntem Haar und perfektem Make-up auf hohen Absaetzen daher. In den Bars und CafŽs der internationalen Ketten servieren bildhuebsche Kellner in Designer-Arbeitsdress Latte Macciato und internationale Kueche, wobei ich allein in einem CafŽ zwei Garçons wahrnahm, die stolz ihre Nasen-OP-Pflaster durch die Gegend trugen. Und daneben wieder: buergerkriegszerschossene Haeuser. Auf den Stra§en im nach historischen Vorgaben fuer mindestens 15 Milliarden Dollar komplett neu aufgebauten Downtown Beirut, auch Disneyworld genannt, wird der internationalen Modewelt zu internationalen Preisen gehuldigt. Der Multimillionaer al-Hariri hatte den mittlerweile wichtigsten arabischen Immobilienfonds "Solidere" nach dem Buergerkrieg gegruendet, um den Stadtkern vor allem durch private Investoren gewinnbringend wiederaufzubauen.
Nachts geht es in einem anderen Distrikt richtig los. In der Rue Monot reihen sich Clubs an Pubs an Bars, und leicht bekleidete Libanesinnen wollen mit den schick frisierten, gut duftenden jungen Maennern ihren Spa§ haben - auf dem Dancefloor, beim beliebten Hobby Champagnertrinken. Doch sexuell laufe eher wenig bis gar nichts, erklaert mir ein schon laenger im Libanon lebender Kanadier. Die Restaurierung des Jungfernhaeutchens sei trotzdem nicht abwegig, sie koste in Syrien nur 30 Dollar.
Ein Bekannter, der seit kurzem eine eigene Apotheke in Beirut fuehrt, zeigt mir sein mit Aphrodisiaka dekoriertes Schaufenster: Vom echten ueber libanesisches Viagra bis hin zu "Hercules-Penis-Creme" und Spanischer Fliege werde allerlei Potenzstaerkendes gefragt. Die jungen Maenner, erlaeutert er, duerften nicht so oft wie sie wollten, und wenn sie duerften, sei es oft so, dass sie dann nicht koennten. Da auch Frauen mittlerweile unter dem Druck stuenden, bereit zu sein, wenn es denn sein muesse (ein anderer Bekannter beschrieb die Beiruter Girls als materialistisch), naehmen auch sie gerne Pillen wie "La Vigra - Viagra for Women". Wie ich spaeter in Gespraechen mit arabischen Frauen erfahre, laufen deren Diskussionen ueber Sexualitaet bis in deutlich intimere Details als unter europaeischen Damen. Versagt ein Mann der Jeunesse DorŽe in einschlaegiger Situation, spricht sich das schnell herum. Auf allen Pillenpackungen steht: "Safe with Alcohol".
In Beirut tanzt man bis zwei Uhr morgens in Bars, danach geht es in Clubs, die entweder 20 Dollar kosten oder horrende Getraenkepreise bei freiem Eintritt verlangen. Etwa ins BO18, einen Buergerkriegsbunker, in dem sargartige Klappcouchen zum Sitzen einladen, aber auch dazu, den Deckel zuzuklappen und darauf zu tanzen, was nach einigen Flaschen des offensichtlichen Prestigegetraenks Champagner auch tatsaechlich in jeder Ecke gemacht wird. Leicht tranciger Downtempo-House treibt die Gaeste - Eintritt frei, Drinks um 15 Dollar - angenehm unaufdringlich durch die Nacht. Irritierend nur: Auf jedem Sarg-Champagner-Tischchen steht ein Foto eines im Buergerkrieg gestorbenen jungen Menschen, schicke Schwarzwei§fotos im Alain-Delon-Stil. Im Fluss der Party oeffnet sich einige Male das Dach, ferngesteuert, so dass die TaenzerInnen die Sterne des Vorderen Orients betrachten koennen. Die angesagten Konversationssprachen sind Franzoesisch und Englisch. Meeresbrise, Sonnenaufgang, neue Freunde.
Am Ende kam ich auch zu einer mit privaten Dollars gemieteten Kameraausruestung - und stand nun, gluecklich mit Kamera, Stativ, Kabel-, Akku- und Lichttasche, vor dem Problem, das klobige Equipment allein zurueck nach Syrien bringen zu muessen. Denn auch fuer die Einreise mit Profikamera sieht das System ein kompliziertes Geflecht aus Faxen an den syrischen Infominister und die Grenzbeamten vor. Um alles ganz korrekt zu machen, muesste man auch den libanesischen Grenzern eine Checkliste faxen. Und irgendwie erklaeren, was ich als Studentin mit Mehrfacheinreisevisum denn mit dem Kollegen mit Journalistenvisum zu tun habe. Neue serbische Freunde in Damaskus sagten mir, dass Schmuggeln wirklich immer einfacher sei als alles Offizielle, also verstaute ich die einige tausend Euro teure Ausruestung in einem feuchten, zugigen Reisebus und fuehrte unser Arbeitsmaterial illegal ueber das groe§te Haschischanbaugebiet der Welt, die Bekaa-Ebene im Libanongebirge, von Platz Nr. 108 nach Platz Nr. 145 auf dem Pressefreiheitsindex ein.
Als der TV-Kollege dann den Dreh ueber die deutsch-syrische Universitaet - ein privates Unterfangen im idyllischen Bergstaedtchen Homs, das seit kurzem nach dem Bologna-Abkommen lehrt - anmeldete, lie§ der Info-Minister verlautbaren, dass wir zwei Aufsichtsbeamte beim Dreh dabeizuhaben haetten. Zum Glueck schien es ihm egal zu sein, ob und woher wir eine Kamera hatten. Am Morgen des Drehtages aber rief der Minister noch mal an: das Thema sei so harmlos, bald seien so viele Feiertage, seine Agenten haetten schon frei, wir sollten doch einfach drehen. Die Uni filmten wir schnell und ohne Komplikationen ab.
Gerade war ich zu neuen Freunden gezogen, zu einer christlichen Verwandten des schiitischen Hizbollah-Fuehrers Nazrallah und ihrem serbischen Freund, die sich illegalerweise - da unverheiratet - ein Haus gemeinsam mit zwei Travellern und einem deutschen Sprachstudenten gemietet hatten. Sie arbeitete frueher in einem Konvent mit minderjaehrigen aussteigewilligen palaestinensischen Prostituierten und erzaehlte mir, dass die meisten Maedchen in ihrer Kindheit vom Familienangehoerigen sexuell missbraucht worden seien. In ihrem Haus tobte Nacht fuer Nacht der Damaszener Underground in Form von Expats, die keine Lust mehr auf die einzige Form des Nachtlebens - Nuttenbars - hatten.
Der syrische Anisschnaps Arrak und der gelblich-gruene, feinstaubige und psychedelisch wirkende blonde Libanese wurden hier kredenzt und ein paar kaputte junge Iraner auf Opiumentzug schauten auch gern vorbei. Als ich mich aus reiner Neugierde nach den Preisen fuer saemtliche Drogen erkundigte, drueckte mir der einst huebsche Perser sofort - orientalische Gastfreundschaft gestattet keine Widerrede - diverse bunte Pillen in die Hand, mit den Worten: "Die hier, falls du kein Heroin hast. Die hier, falls du Koks brauchst." In Syrien, so die Erklaerung des Drogenprofis, gebe es naemlich nur Haschisch und Heroin, Opium nur im Iran, Kokain und andere Modedrogen nur im Libanon und natuerlich in Israel, ganz klar - dort, wo harte Waehrung zu holen sei. Die Pillen haette er alle von einer ihm "freundlich gesinnten Apotheke" erhalten, von denen er einige in Damaskus kennen wuerde. In fast allen arabischen Laendern sind fast alle Medikamente verschreibungsfrei.
Die Shops mit westlicher aufreizender Mode, die obszoenen Handyfotos und maennliche internationale Reisende, die mir erzaehlten, wie sie nachts am zentralen Platz, dem Maertyrerplatz, Einladungen fuer preiswerte Wohnungsprostitution erhielten, oeffneten mir die Augen fuer eine Parallelwelt der Stadt. Bei abendlichen Spaziergaengen im neuen Teil von Damaskus nahm ich ueberall die roten "Night-Club"-Leuchtreklamen wahr und traute mich auch hinein in diese wie echte Siebziger-Jahre-Discos angelegten Etablissements. Rings um die meist kreisfoermige Tanzflaeche hocken allnaechtlich junge Maedchen aus Russland, der Ukraine oder Wei§russland und muessen auf Gehei§ des Managers alle halbe Stunde tanzen. Danach werden sie von interessierten Gaesten an die Tische gebeten, es wird getrunken, spaeter geht man in Hotels oder Wohnungen.
Einige Naechte lang gehe ich mit meinen serbischen Freunden in diese Night Clubs und gebe mich den Maedchen gegenueber als eine von ihnen aus: "I am German and new here in business." Sie erzaehlen freimuetig in bruchstueckhaftem Englisch: dass das Leben hier schlecht, aber immer noch besser als zu Hause sei, dass sie ihre schmierigen Hotels direkt im Stadtzentrum tagsueber nicht verlassen duerften, dass sie pro Kunde gerade mal zwanzig Dollar verlangen koennten, dass sie keine Kondome benutzten und dass sie ihr Hauptgeschaeft im Sommer machen wuerden, wenn die Saudis kaemen. Prostitution und die Beihilfe dazu stehen unter hoher Strafe in allen arabischen Laendern, aber das System sei korrupt, auch Staatsdiener zaehlten zu ihren Kunden. Eine Packung der syrischen Viagra-Imitation kostet in den Apotheken von Damaskus etwas ueber einen Euro; die Viererpackung Kondome hingegen zwei.
Ein junges englisches Paerchen, das nachts um vier auf einer dieser Stra§enueberfuehrungen knutschte, erfahre ich, wurde von der Polizei aufgeschreckt, dem Maedchen gelang es, wegzurennen, der Junge aber wurde eine halbe Stunde lang mit vorgehaltenen Schusswaffen bedroht, angeschrien und ins Mark veraengstigt. Denn oeffentliches Kuessen ist in Syrien, wie auch freie Meinungsaeu§erung, Prostitution, Drogenhandel oder der Besitz einer Profikamera: unter Strafe verboten.
Posted by jaz at 27.05.06 15:37