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21.01.06
Checkpoint Palaestina
Whiskey in Gaza, HipHop und Wodka im Westjordanland - nach der Raeumung juedischer Siedlungen keimt unter jungen Palaestinensern leise Hoffnung auf Normalisierung. Das Stimmungsbild einer zerrissenen Region
Weinend sitzt eine blonde Frau am Grenzuebergang Eres, dem Betonungetuem, das den Menschen- und Warenfluss zwischen Gaza und Israel regeln soll. Ein kleines Laecheln, als ich sie auf Deutsch anspreche. Ihr zweiter Versuch, nach Gaza zu reisen, um dort ihre Schwiegermutter kennen zu lernen, ist gescheitert. Es ist Feiertag, juedisches Neujahr und Beginn des Ramadan, hoechste Wachsamkeit bei allen Grenzern der Israeli Defense Force (IDF), die ohnehin immer gefordert ist. Das Auswaertige Amt raet von der Einreise ohnehin ab: Wenn hier geschossen und entfuehrt wird, kann keine Botschaft helfen. Auch angemeldeten Journalisten koenne jederzeit spontan die Einreise in den offiziell freien Gaza-Streifen verweigert werden, wurde schon vorher von den israelischen Behoerden gewarnt.
Wir sind etwas nervoes: Die Kollegen und ich haben die Maximalmenge von je einer Flasche Whiskey im Gepaeck, das hatten sich zwei unserer Interviewpartner, Geschaeftsleute aus Gaza-Stadt, gewuenscht - gegen Bargeld. Daneben habe ich zum persoenlichen Schutz immer CS-Gas dabei und fotografiere prinzipiell militaerische Anlagen stets bis zu dem Punkt, an dem €rger droht.
Laessig herumlungernde Teenagersoldaten fuehren kurze Interviews und telefonieren irgendwohin, warten in der Hitze, in einem mit juedischem Neujahrsschmuck dekorierten Container-Checkpoint. Wir werden durchgewinkt. Die traurige Schwiegertochter muss drau§en bleiben. Durch Drehtuer und Metalldetektor geht es in die riesige Abfertigungshalle - gebaut, um tausende palaestinensische Tageloehner auf ihrem Weg nach Israel und zurueck zu kontrollieren. Doch jetzt duerfen sie schon lange nicht mehr raus. Befremdlich: Jetzt, da Gaza "frei" ist - die juedischen Siedler sind erst ein paar Wochen weg -, sind keine Grenzgaenger in Sicht, nicht einmal Grenzer, auch keine Soldaten.
Eine anonyme Grenzuebergangsfabrik. Im grellen Scheinwerferlicht stehend, kommandieren mich Lautsprecher aus acht Meter Hoehe. "Turn around!" Tasche aufs Flie§band, in den Apparat legen, CS-Gas und Whiskey kommen durch, es scheppert aus Lautsprechern, nach Begutachtung: "Have a nice day!" Noch 800 Meter zu Fu§, durch einen breiten, abstrakt wirkenden Korridor aus Rohbeton, eine Passkontrolle durch drei uniformierte Damen mit Kopftuch, dann bin ich in einem der am dichtesten besiedelten Truemmerhaufen der Erde. Eine Autostunde und 45 Minuten Grenzueberschreitung vom glitzernden Tel Aviv entfernt, zuckeln hier Eselskarren ueber laedierte Stra§en, die von Wellblechhuetten und tonnenweise unentsorgtem Muell flankiert werden.
In der Ferne, ueber dem Meer, schwebt glei§end ein Zeppelin, perfekt getarnt, nicht fotografierbar; die Abzuege meiner Fotos werden spaeter nur blauen Himmel mit einem leichten wei§en Schatten zeigen. Der Fahrer, Ahmad, erklaert ohne Groll, dass die Israelis weiterhin alles ueberwachen. Trotzdem freue er sich, denn seit die Siedler abgezogen sind, koenne er die gro§e Nord-Sued-Stra§e des Streifens endlich wieder uneingeschraenkt nutzen. Zuvor war sie teilweise und oft auch im Ganzen fuer Palaestinenser gesperrt, auch die Umgehungsstra§en. Fuer ihn als Fahrer ist das Leben deutlich besser geworden, auch wenn er fast keine Kunden hat und so gut wie nichts verdient. Ahmad und seine Familie koennen nur mit der Hilfe seiner vier in Deutschland lebenden Brueder ueberleben. Seit Jahrzehnten sei dies der normale Weg fuer Palaestinenser, im Westjordanland und in Gaza zu ueberleben.
Wir rumpeln nach Gaza-Stadt, ins dicht gedraengte Haeusermeer, viele Haeuser, fast alle, sind verfallen. Keine buergerkriegsartigen Zustaende, das Chaos sollte erst einige Wochen spaeter ausbrechen, alles wirkt friedlich, hunderte Kinder laufen aus der UNO-blauen Schule nach Hause, und die Jungs laermen aus voller Kehle. In Uniform winken die Kleinen aufgeregt in meine Kamera, die Maedchen mit den wei§en Kopftuechern laufen hier, im - verglichen mit dem Westjordanland - konservativen Gaza, brav auf der anderen Stra§enseite. Obwohl laut Unicef die Kindersterblichkeit hier sechsmal hoeher als in Deutschland ist und Mangelernaehrung herrscht, erzieht jede Frau hier fuenf bis sechs Kinder. Mit weniger als einem Dollar pro Kopf und Tag. Rund 80 Prozent der Kinder in Gaza sind laut Unicef-Bericht 2004 durch die staendigen Luftangriffe und Vergeltungsaktionen der IDF traumatisiert.
Gaza unterscheidet sich optisch in drei Punkten von anderen arabischen Staedten und Ortschaften: Alle Haeuser sind mit Graffiti beschrieben, dabei mit verschiedenen Flaggen und Fahnen geschmueckt. Meist weht die gruene Flagge der Hamas, aber auch die gelbe der Fatah, die rote der PFLP und die schwarze des Islamischen Dschihad. Statt der sonst ueblichen Praesidenten- oder Koenigsbilder haengen hier Poster und Wandgemaelde der Schaheeds, der Selbstmordattentaeter. Und es tuermt sich noch mehr Muell als anderswo, in den Hinterhoefen, auf den Stra§en. Wenn ihn die Esel nicht fressen, holt niemand ihn ab.
Die Zukunft? Nur Gott allein wei§, was die Zukunft bringen wird. Vielleicht wird es irgendwann mal ein Palaestina geben. Ein Palaestina mit Industrie und einer funktionierenden Wirtschaft. Wir warten auf Gottes Rettung." Mai Khalil ist eine wunderschoene Frau, die ihr Kopftuch locker traegt. Sie ist Mitte zwanzig und lebt im Fluechtlingslager von Khan Yunis, im Sueden des Gaza-Streifens, fast direkt am leeren, nicht ganz so schmutzigen Strand, der das Lager zum Meer hin begrenzt. Doch fuer Beach & Fun ist hier der falsche Ort, hier wird der Koran gelehrt, nicht schwimmen. Die junge Frau hatte mich von der Stra§e in ihre Behausung gezogen, als mir ihr etwa achtjaehriger Sohn, im Geroell spielend, erklaerte, wie sehr er die Widerstandskaempfer auf den Plakaten verehre. Irgendwie passt ihre Anmut nicht hierhin, wo israelische Vergeltungsaktionen viele Haeuser bis auf die Grundmauern zerstoert haben und jedes Haus durch Maschinengewehrsalven durchloechert ist.
Die junge Palaestinenserin lebt mit zwanzig Personen in etwas, das vielleicht als Truemmer mit Grundmauern, aber schon lange nicht mehr als Haus durchgehen koennte. "Wir haben vier Zimmer. In jedem Zimmer gibt es etwa vier bis sechs Personen. Im Winter ist es sehr kalt hier." Die duennen Matratzen, die aermliche Kochnische - alles, was die hier hausende Familie mit Ehemann, Onkel, Tante und Kindern besitzt, ist mit dem feinen Sand des nahen Strandes ueberzogen. "Seit die Juden weg sind, sind wir sehr gluecklich; wir hoffen auch, dass die Gefangenen freigelassen werden. Und dass unsere Kinder Bildung bekommen und die Wirtschaft funktioniert", erklaert mir die sechsfache Mutter, doch ihr Optimismus scheint ihr selbst unbegruendet.
Ein paar Kilometer weiter liegt die von den abziehenden juedischen Siedlern selbst zerstoerte Siedlung Gusch Katif. Hier gingen 220 israelische Kinder in eine schoene, saubere Schule, deren †berreste die sich siegreich fuehlenden Palaestinenser nach dem israelischen Abzug komplett verwuesteten und in Brand steckten. Ein paar Maenner suchen im Schutt nach Brauchbarem.
Ahmad faehrt voll Stolz zum Yassir Arafat International Airport, der bis auf die von der IDF zerbombte Landebahn komplett intakt wirkt. Gebaut wurde der Flughafen 1996, von der deutschen Bundesregierung mit 150 Millionen Mark bezuschusst: damit die Palaestinenser, auch waehrend der schon damals haeufigen Grenzschlie§ungen, ihre wichtigsten Exportgueter wie Gemuese und Blumen exportieren konnten. Man kann die Abfertigungshalle einfach betreten, alles ist offen, luftig gebaut, sauber, arabische und englische Tafeln leiten den Weg fuer Gaeste, die niemals kommen. Vielleicht besser so - sie waeren vermutlich sehr irritiert von den auch hier ueberall haengenden Maertyrerplakaten. Oder von der hier wieder sichtbaren Mauer, die Gaza abriegelt, und dem - im Vergleich DDR-Anlagen - ueberdimensionierten massiven israelischen †berwachungsturm.
Hoffnung besteht trotzdem; eine palaestinensische Investorengruppe haelt sie kostspielig aufrecht: Sie baut in Gaza-Stadt seit fuenf Jahren mit Unterbrechungen an einem Moevenpick-Hotel am Strand. Einige andere Hotels sind ebenfalls in Bau, direkt neben Fluechtlingslagern, neben im Gestruepp grasenden Ziegen und Abfall. Wer hier wohl einmal Urlaub machen soll, falls irgendjemand Geld dazu hat und Gaza jemals ohne israelische Sondererlaubnis betreten werden darf? Die Geschaeftsfuehrerin eines neuen, sehr schicken Restaurants wagt noch nicht, auf Touristen zu hoffen, immerhin kaemen aber schon viele NGO-Mitarbeiter zu ihr, obwohl erst seit einem Monat geoeffnet sei. Sollten das Westjordanland und Gaza irgendwann durch einen langen, tief in die Stra§e eingelassenen Korridor nur fuer Palaestinenser verbunden sein - ein vages israelisches Bauvorhaben -, koennten hier Gaeste aus dem Westjordanland Tage am Meer verbringen.
Die charmanten, weltgewandten Empfaenger der Whiskeyflaschen treffen wir hier. Sami Abdel Shafi hat in Amerika Wirtschaft studiert und freiwillig seinen US-Pass gegen einen Gaza-Ausweis getauscht. Er beraet NGOs, die Gaza unterstuetzen oder aufbauen wollen, auf westlichem Niveau. "Korruption und das Versickern der Gelder ist das zweitgroe§te Problem hier. Das groe§te ist, dass nur die Hamas als nicht korrupt gilt."
Als es zu daemmern beginnt, wird Ahmad, der Fahrer, hektisch und erklaert, dass er mich jetzt verlassen werde, da er zu seiner Familie zum Iftar, zum Fastenbrechen, muesse, dass er mich danach nicht zum †bergang nach Eres zurueckfahren koenne. Das Essen werde sehr lange dauern. Restaurants gebe es keine, alle Geschaefte seien geschlossen, jeder sei bei seiner Familie. Da Gaza sich anfuehlt als einer der letzten Orte der Welt, an denen man in der Abenddaemmerung allein gelassen werden moechte, schenke ich ihm sofort all meinen Proviant und mein Wasser und treibe Zigaretten auf. Er erbarmt sich, erklaert sich bereit, auch nach Einbruch der Dunkelheit weiterzuchauffieren. Ein Glueck, zumal jetzt nicht nur die wilde Kakophonie der Gebetsrufe aus Moschee-Lautsprechern und voll aufgedrehten Autoradios beginnt, sondern auch Gewehrsalven durch die kuehle Nachtluft knallen - abgefeuert aus Freude, dass das Hungern und Dursten des Tages ein Ende hat. Wenige Naechte spaeter schossen die Palaestinenser wieder selbst gebaute Kassam-Raketen aus Nordgaza gen Israel, als Antwort kam die IDF mit Bulldozern, Apache-Helikoptern und tief fliegenden F-16-Kampfflugzeugen, deren †berschall Fensterscheiben splittern lie§.
Zurueck am †bergang: Schuesse und Leuchtraketen, mit kleinen Schirmchen, als wir uns der Grenzmaschine naehern. Die palaestinensischen Grenzer freuen sich ueber Besuch, drei locker Uniformierte hocken und liegen mit einigen Freunden in T-Shirts und Jogginghosen auf alten Matratzen beim Tee, zu dem sie sofort einladen. Nachdem ich von ihnen beim Dienst habenden Israeli am anderen Ende des Tunnels angemeldet worden bin und auf Genehmigung warte, den Gang zu passieren, hocken wir, trinken Tee und scherzen.
Israel fuehlt sich besser an. Eine Stunde spaeter, nach Fahrt entlang der neuen Mauer, beim Bier am Strand von Tel Aviv, rieseln trotzdem noch Schauer durch meinen Koerper. Wie dankbar bin ich fuer meinen EU-Pass. Am Abend wollen schwule Freunde, Einheimische, ausgehen, in einen hei§en neuen Club, das Powder. Anstehen fuer den Security-Check: Metalldetektor und Taschenkontrolle. Nach Drogen, wie in manch einschlaegiger Disko in Europa, wird hier nicht gesucht. Hysterische Stimmung, der allnaechtliche Tanz auf dem Vulkan. Um drei Uhr morgens hat kaum noch ein Mann sein T-Shirt an, recht innovative elektronische Musik peitscht die dampfende, sich eitel gebende Crowd. Joints machen die Runde, die Toilettenkabinen sind ueberfuellt mit hektischen, verschwitzten Menschen. Drau§en, im Open-Air-Gelaende, auf gro§en, wei§en Sofas, stuerzen Leiber begierig uebereinander. Es soll ein schwuler Club sein, stellt sich im Lauf der Nacht aber als ein Zirkus des allgemeinen hedonistischen Wahnsinns heraus. Zwei junge Maenner wollen nach Plausch und Drink zu mir ins Hotel. "First I am going to watch how you fuck him, then I am going to fuck you." Dabei war das Gespraech gar nicht in diese Richtung gegangen.
Die beiden sehen sehr arabisch aus. Der gro§e Schoene, Guy, 26, ist Taxifahrer, seine Eltern sind aus Marokko, der andere, Roy, 23, ist ein aus Algerien stammender Koch-Azubi. Sie sind stolze Juden und hassen die Araber. "Warum? Wegen der Araber musste ich mir drei Jahre meines Lebens von der Armee stehlen lassen." Ein deutscher Freund, bi, verabredet sich zum Chillen mit einer neuen Bekanntschaft, sagt dann aber doch ab: Die Freundin des Typs sollte auch mit dabei sein und eventuell noch andere Jungs. Sie mag es gerne mit "as many boys as possible". Wir beenden den Tag lieber in der levantinischen Morgendaemmerung, schwimmend.
Am naechsten Tag nimmt mich Arvid Weinlich mit nach Jerusalem. Weinlich ist der Leiter des Deutschen Vereins zum Heiligen Lande, der seit 150 Jahren in Jerusalem ansaessig ist und katholische Pilger aus dem Bistum Koeln betreut. Auf der Fahrt erklaert er mir, dass die arabischen Christen Palaestina verlassen, wann immer sie es sich leisten koennen. Auch seine christlich-arabischen Mitarbeiterinnen koennten es kaum mehr ertragen, ihre Familien nur zu Passierscheinzeiten zu sehen, willkuerlich nicht mehr zu ihrem Arbeitsplatz gelassen oder festgenommen zu werden, wenn sie nach Verrichtung ihres christlichen Tagewerks, eine halbe Stunde nach Ablauf ihrer offiziell genehmigten Aufenthaltszeit im falschen Teil der Heiligen Stadt erwischt wuerden.
An der Hebrew University in Jerusalem treffe ich Rafael Mechoulam. Der ueber 80-jaehrige Professor empfaengt mich in seinem Labor. Er ist Pionier auf dem Gebiet der therapeutischen Cannabisforschung, 1964 gelang es ihm erstmals, THC (Delta-9-Tetra-Hydro-Cannabinol) aus der Cannabispflanze zu isolieren. Seitdem forscht und kaempft er fuer die therapeutische Anwendung von THC, das gut gegen Appetitlosigkeit, Traumata und Angststoerungen wirkt. Seine Forschungen wurden international argwoehnisch beaeugt - bis die US-Soldaten aus Vietnam zurueckkamen und jede Menge Probleme mitbrachten. Ploetzlich flossen Foerdergelder aus den USA. Mechoulams Forschungen rund um das Gute in Cannabis brachten ihm viele Urkunden renommierter Institutionen ein, auch eine Ehrung als "Wissenschaftler des Jahres" des deutschen Hanf-Magazins. Der Professor liebt seine Arbeit und seine Studenten, derzeit hilft er Trauma- und Schmerzpatienten, auch aus der Armee, mit kontrollierter Abgabe von THC. Je staerker jedoch die Rechte in Israel sei, sagt er, desto schwieriger werde seine Arbeitssituation.
Nach unserem Gespraech faehrt mich der Professor durch den Teil Jerusalems, der nach seinen Worten von "Pinguinen" beherrscht wird, das hei§t: von orthodoxen Juden. Religion findet Mechoulam einfach ueberbewertet. Als Kind war er, ein Verwandter von Elias Canetti, aus Osteuropa gefluechtet. Ethnisch und staatsbuergerlich sei er Jude und Israeli, begreife sich aber als europaeischer Naturwissenschaftler. Zusammen suchen wir einen Shop, der Wodka fuehrt, fuer die Rapper aus Ramallah, zu denen ich jetzt noch will. Es gibt ueberraschend viele Spirituosengeschaefte neben all den Reinigungen, in denen nur schwarze Maentel haengen und in denen nur Maenner in schwarzen Maenteln schwarze Maentel abgeben oder abholen. Der Professor schuettelt den Kopf: Zu viel Inzest und zu viele unverstaendliche Besonderheiten, die er selbst nicht verstehe - aber nur durch die Besonderheiten habe sich das Volk durch die Jahrtausende erhalten koennen. Der feine alte Herr drueckt mich beim Abschied am Damaskustor herzlich und entschuldigt sich fuer die Umstaende, in denen ich das Weltkulturerbe finden muss.
Es soll Rapper in Ramallah geben, ein Freund aus Norwegen hatte von ihnen gehoert. Die Crew von "Ramallah Underground" fand ich im Internet. Jetzt haben sie mich zu einer Jam-Session eingeladen. Der erste Kontakt vor zwei Monaten lief ueber das Internet, dann ueber das schlechte Funknetz im Westjordanland. Ich bin gluecklich, die HipHop-Jungs ans Telefon bekommen zu haben, hoffentlich erwische ich sie wieder, wenn ich in ihrer Stadt bin. Man kann sich in dieser Region nicht fuer eine exakte Uhrzeit verabreden, Checkpointzeiten sind ein stetiger Faktor X.
Am Damaskustor, von dem aus man den arabischen Teil der Heiligen Stadt betreten kann, knallen wieder Schuesse in der Abenddaemmerung, wahrscheinlich nur aus Freude, trotzdem gehe ich einen kleinen Umweg. Ab der Busstation fuer Palaestinenser faehrt man fuer 45 Cent zum Kontrollpunkt Kalandia, wo der Ostjerusalemer Bus wieder umkehren muss. Kalandia wirkt in der Finsternis wie eine surreale Inszenierung, irgendwo zwischen Mad Max und der Bronx der 70er. Flutlichtlampen, monstroese Kontrolltuerme und die von hier an allgegenwaertige Mauer. Ich darf trotz EU-Pass und dem Argument, allein reisende Frau zu sein, kein Pfefferspray zur Selbstverteidigung bei mir tragen, die anderen - 18-jaehrige Soldaten - aber duerfen scharfe Knarren mit sich fuehren, wo immer sie auch hingehen.
Fuer die Pendler ist Kalandia, dieser auf mich absurd wirkende Ausnahmeort, so normal wie fuer mich die taegliche Fahrradfahrt durchs Brandenburger Tor. Datteln werden neben einer brennenden Tonne verkauft, schnell eine Hand voll fuer diejenigen, die es nicht puenktlich zum Iftar zu ihren Lieben in den "Gebieten", den Mauerkantonen, geschafft haben.
Behinderte betteln, auf dem Boden kauernd. Taxis und Busse kurven laut hupend um den kleinen Vorplatz des Checkpoints, ein Hydrant spritzt Wasser, trotz der naechtlichen Kaelte erfreuen sich ein paar kleine arabische Jungs am Wasserstrahl und plantschen vor den israelischen Kontrolltuermen im Flutlicht herum. Wer ins Westjordanland will, stellt sich an, in einem verschlungenen Gatter, ueberdacht immerhin, muss durch insgesamt zehn Schranken, gibt sein Gepaeck ab und wartet, bis die blutjungen SoldatInnen durch den Metalldetektor winken. Die Angst vor Anschlaegen scheint alles zu legitimieren. Seit es die Mauer und hunderte, auch "fliegende" spontane Checkpoints im Westjordanland gibt, kann sich Israel statistisch tatsaechlich sicherer fuehlen. Ich werde als Europaeerin erkannt, man winkt mich vor, die kleine Soldatin hat ein fast entschuldigendes Laecheln auf dem Gesicht, als sie meine Tasche durchwuehlt und mir mein CS-Gas wegnimmt. Durch den zweiten Teil des Gatters geht es in einen rund hundert Meter langen Betonschlauch, der auf einem Parkplatz direkt neben der hier acht Meter hohen Mauer endet.
"RamallahRamallahRamallah", rufen die Sammeltaxifahrer in die Nacht, fuer 45 Cent geht es weiter in die schickste Stadt Palaestinas - auch fuer sie gilt eine Reisewarnung des AA. Wo die israelischen Flutlichter nicht mehr hinstrahlen, herrscht finsterste Nacht. Nur am Horizont funkeln die Lichter der immer schneller wachsenden juedischen Siedlungen, Retortenstaedte mit jungen israelischen Staatsbuergern, russische Enklaven auf international als palaestinensisch markiertem Gebiet.
Nach wenigen Minuten: Einfahrt in das lebendige Staedtchen in den Bergen, einst die Sommerfrische fuer reiche Jordanier, die das angenehme Klima und die schoene Aussicht ueber die huegelige Landschaft und die Olivenhaine genossen. Die InternetcafŽs sind voll mit jungen Menschen; Maedchen mit und ohne Kopftuch treffen Jungs in Chatrooms. Im Kaffeehaus nebenan, live und direkt, ist das nicht moeglich, da sitzen nur die Maenner. Familien flanieren auf den Stra§en, jeder zweite Laden entlang der Hauptstra§en ist eine Baeckerei oder ein Sue§warenladen.
Nach einigen Versuchen erreiche ich Jad alias MC Boikutt ueber das Mobilnetz, er holt mich mit einem Kumpel im gro§en Cruiser seines Vaters ab, aus den Boxen droehnen die Beats des Wu-Tang-Clans, fuer einen der zahlreichen Verwandten der US-Rapper habe er schon Beats gemacht und uebers Internet verschickt, erklaert er mit derselben Laessigkeit, mit der auch alle anderen Rapper der Welt ueber ihre Arbeit reden.
Zum Kennenlernen gehen wir ins In-Restaurant Stones, eines der wenigen im Ramadan geoeffneten Restaurants; hier sitzen westlich gestylte Maedchen mit ihren Freunden gemeinsam an Tischen und rauchen Wasserpfeife. Au§erhalb des Ramadan wird hier auch Alkohol ausgeschenkt. Jad ist gerade 20 Jahre alt, ein Zarter, Schmaler, hat sehr schoene, gro§e schwarze Augen und zeigt bei seinem seltenen Laecheln strahlend wei§e Zaehne. Er spricht perfektes amerikanisches Englisch, lebte die letzten zwei Jahre in Washington, D. C. und studierte Musik. Wie auch sein Kumpel besitzt er den amerikanischen Pass, der aber von den Israelis nicht anerkannt wird. "Als ich einmal versuchte, ohne israelischen Passierschein, nur mit meinem US-Pass, ueber Kalandia nach Jerusalem zu reisen, schmissen die Grenzer den Pass auf den Boden und traten drauf. Ob ich sie verarschen wollte, fragten sie mich, ich muesse doch genau wissen, dass der Pass fuer einen wie mich hier nichts bedeuten wuerde."
Ich habe noch keinen Schlafplatz fuer die Nacht und zweifle, ob ich eine Einladung von dem kuehlen Kuenstler bekommen werde. Kurz verabschiede ich mich in die Bar neben dem Stones. Von einem Christen gefuehrt, ist es das einzige Lokal, das unter der Hand auch im Ramadan Alkohol ausschenkt, hauptsaechlich an die vielen hier ansaessigen NGO-Mitarbeiter. Die Internationalen kennen sich, und natuerlich gibt es alle moeglichen verschwurbelten internationalen Liebesbeziehungen und wilde Partys. Alle sind jung, energiegeladen, abenteuerlustig; wer das nicht ist, kommt nicht zum Arbeiten hierher.
Simon Boas, ein junger britischer Gentleman vom Palestine Economic Policy Research Institute, den ich bei meinem letzten Besuch hier traf, gab mir eine Einfuehrung in die lokalen Westler-Gepflogenheiten. Wie beim Kriegsreportermythos scheint Alkohol auch fuer die NGO-Mitarbeiter, die freiwillig unter Besatzung leben, eine gro§e Rolle zu spielen. Erwartungsgemae§ sitzt Simon dort mit FreundInnen vom Roten Kreuz und der UN beim Bier. Hoch gewachsen und mit herrlichem britischem Humor ausgestattet, haette er auch einen jungen James Bond spielen koennen; die Augenklappe, die er seit vier Monaten wegen einer Schlaegerei mit einem Freund in England tragen muss, macht ihn noch spannender. Ich hole mir von ihm meine Schlafplatzeinladung fuer die Nacht ab und versuche dann im Restaurant nebenan weiter, die Kuehle der Rapper, die sich bald als blo§e Schuechternheit erweisen wird, zu erwaermen.
Als ich den Wodka erwaehne und frage, wo man ihn denn trinken koenne, beginnen die Jungs zu strahlen, das Eis zwischen uns schmilzt. Sie freuen sich, was sie mit ihrer kleinen Website (www.ramallahunderground.com) und den darauf zu findenden Tracks erreicht haben, und sagen es mir sofort und ohne Scheu: dass sie niemals im Leben damit gerechnet haetten, dass jemand aus Deutschland sich fuer sie interessieren wuerde und dann auch noch tatsaechlich die Ankuendigung, sie in diesem unwirtlich gewordenen Teil der Welt zu besuchen, wahr machen wuerde. Und dass es dann auch noch ein blondes Girl aus Berlin sein wuerde, das hier allein und mit einem Liter unbezahlbarer Markenspirituose in der Tasche anreisen wuerde, haetten sie nie fuer moeglich gehalten. Ob ich denn schon wisse, wo ich schlafen werde - natuerlich sei ich bei ihnen, also im Hause ihrer Eltern, herzlich willkommen.
Doch erst noch steht die Jam-Session an. Im Cruiser geht es gefuehrt von einem Freund der beiden, durch die halbe Stadt zu einem Friseursalon. Nebenan ist ein kleines Tattoostudio versteckt, in dem ein weiterer Freund im bluetenrein wei§en Doktorkittel gerade eine 17-Jaehrige mit offenem Haar, in Traegershirt, Armeehose und Nietenguertel taetowiert. Sie hat sich einen schwarz-violetten Schmetterling als Verzierung ihres Stei§beins ausgesucht und freut sich ueber den Wodka Orange, der sie die Stiche der Nadel etwas milder empfinden laesst. Auf meine Frage, ob sie denn damit noch Chancen habe, im konservativen Palaestina geheiratet zu werden, lachen die Jungs. "Niemand wird sie heiraten!"
Die beiden wollen wissen, warum ich einen Rock ueber meiner weiten Hose trage und auch sonst so schlabberige Kleidung, als ob ich die islamische Kleiderordnung beachten muesse. Eine Diskussion entbrennt: Jad, der selbst die internationale Uniform des HipHop (weites, offenes Karohemd ueber schneewei§em T-Shirt, zu gro§e Jeans und teure Turnschuhe) traegt, ist der †berzeugung, dass die Jugend Ramallah und die arabische Welt selbst reformieren muesse. Je mehr Girls offenes Haar, kurze Roecke und Taetowierungen truegen, desto schneller wuerden alle mitmachen oder zumindest die Ankunft der Moderne begreifen. Sein Kumpel Jassir widerspricht energisch: Ob Jad wisse, was er da redet? Nein, nein, die Deutsche mache es mit ihrer Kleidung richtig. Schlie§lich kenne er genug Maedchen im Westjordanland, die vergewaltigt worden seien, nur "weil sie einmal dem falschen Pizzalieferanten in Shorts die Tuer geoeffnet" haetten. Prinzipiell unterstuetze ich Jads Meinung, aber als Frau allein - jetzt auch noch ohne mein Gas - trage ich gerne Schlabber und habe ein Kopftuch griffbereit. Hier zum Glueck brauche ich das nicht.
An den Waenden haengen, genau wie bei jungen israelischen Post-Pop-Hippies, neonbunte, fluoreszierende Poster mit Aliens und Ufos und eines mit zwei kopulierenden Skeletten, darunter der Satz "True love lasts forever". Jad faengt ein bisschen an zu rappen, seine Texte sind energisch, propagieren aber Frieden - denn Gewalt, sagt er, gebe es im Konflikt schon mehr als genug, auf beiden Seiten. Mehrere Freunde von ihnen seien erschossen worden, auch schon als Kinder, beim Steineschmei§en gegen Panzer, mit den angeblich ungefaehrlichen Hartgummigeschossen. Einmal kam die israelische Armee in die Wohnung seiner Eltern, nachts. Weil er eine US-Militaerjacke geschenkt bekommen hatte und sie trug, wurde vermutet, dass er mit einer militanten Organisation zu tun habe. Razzia. Er wollte nicht sagen, dass sein Onkel ihm die Jacke geschenkt hatte, um ihn nicht in Verdacht zu bringen, also blieb die Armee im Haus seiner Eltern, auf Informationen wartend.
Nachdem er damals ein paar Stunden lang den Uzi-Lauf an seiner Schlaefe spueren durfte, haelt er nichts mehr vom Military Style und noch viel weniger von Gewalt. Ein wenig Verstaendnis fuer die andere Seite zu erreichen, kuenstlerischen Austausch zu initiieren und Frieden durch Poesie zu schaffen waeren seine Ziele, wenn es denn Sinn haette, sie zu formulieren. Gegen Juden habe er nichts ("Ich koennte selbst einer sein"), nur gegen die Zionisten. Seine Ernsthaftigkeit ist keine antrainierte Abgebruehtheit, schon gar keine Attituede. Er hat, wie so viele hier, bereits zu viel gesehen fuer seine 20 Jahre.
Mittlerweile sind noch der Friseur mit dem Spinnentattoo am Hals, seine Freundin und der Azubi Victor - Vater Palaestinenser, Mutter aus der Ukraine - hinzugekommen. Alle sprechen gutes Englisch und sind sehr neugierig, hier war noch nie Besuch aus Deutschland. Victor mit der Modepunkfrisur fragt mich nach Gras, er wuerde so gerne kiffen, erklaert mir aber die Problematik: dass Cannabis, wenn man es denn in Ramallah finde, schrecklich teuer sei, dass, wenn man erwischt wird, ins Gefaengnis kommt und am allerschlimmsten die gesellschaftliche €chtung sei, die die Eltern dann ertragen muessten und an die Kinder weitergaeben.
Das frisch taetowierte Girl haette schon vor einer Stunde zu Hause sein sollen und rennt los, den unvollendeten Stei§schmetterling reibend. Im besten ukrainischen Tempo knallt sich Victor die halbe Flasche Wodka rein und muss sich sofort drau§en, vor dem Schaeferhundezwinger, uebergeben. Der Tattoomeister, der als Sicherheitsangestellter privilegiert am Ben-Gurion-Flughafen arbeitet, zuechtet die Tiere hier. Sie sind sein ganzer Stolz.
Man wechselt in den spaerlich-liebevoll dekorierten Friseursalon. Der smarte Jad hat sich mittlerweile genug Mut angetrunken und beginnt, vor meiner DV-Kamera zu toasten: "This is a Zionist Story - people came with ships to the Holy Land " Die Beats kommen aus dem Laptop, und per Internettelefonie ist sein Partner Abboud aka "Stormtrap", derzeit im Wiener Exil studierend, dazugeschaltet. Weil es Kommunikationsprobleme gab, war mein erster Kontakt nach Westjordanland ueber ihn gelaufen, und als ich ihn jetzt ueber das Internettelefon begrue§e, kann er es nicht fassen, dass er mit mir wirklich die erste internationale Pressevertreterin zu seinen Kumpels geschleust hat.
Die Jam-Session wird ein gro§er Spa§, alle klatschen mit und huepfen durch den Salon. Die Lyrics wechseln von Englisch zu Arabisch, faszinierende Lautakrobatik. Um Mitternacht muessen wir neuen Wodka besorgen, cruisen mit MC Boikutt zu einem versteckten Laden am anderen Ende der Stadt, der bei§enden russischen Fusel verkauft. Wieder zurueck im Friseursalon, fangen die Jungs an zu tanzen, ein Track vereint orientalischen Rhythmus mit freshen Beats und geht allen direkt ins Blut. Victor tanzt Kasatschok und hat sich wieder so weit gefangen, dass er den neuen Wodka auch genie§en kann. Es ist drei Uhr morgens, und alle Partyteilnehmer stellen fest, dass sie morgen zur Uni oder zur Arbeit muessen und ich dringend noch eine frisch gebrannte CD von Ramallah Underground benoetige. Die †bernachtungseinladung von Jad nehme ich gerne an, er wohnt mit seinen Eltern in einer schicken Apartmentanlage mit Tiefgarage und Fahrstuhl.
Er hat ein ganz normales Jungmusikerzimmer mit Turntables und Computer, alles ist voll mit Platten und CDs. Wir brennen noch schnell eine mit seinen Beats, er krickelt eine Widmung drauf. Am naechsten Morgen habe ich das - ganz lange nicht mehr gehabte - seltsame Erlebnis, einer fremden Mutter "Guten Morgen" zu wuenschen. Vor allem, da die Mutter, mit modernem Kurzhaarschnitt, perfekt gefoehnt, schon um 7 Uhr morgens am Macintosh-Laptop arbeitet.
Posted by jaz at 21.01.06 19:34